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Geschichte der mechanischen Rechenmaschinen


Zur Geschichte der mechanischen Rechenmaschinen und ihrem Platz in der Geschichte

Peter Schreiber, Stralsund

Vortrag, gehalten beim 2. Greifswalder Symposium zur Entwicklung der Rechentechnik 12. - 14. September 2003, erschienen in Girbardt/Schmidt 9-2003
Im Rechnerlexikon mit freundlicher Genehmigung des Verfassers

Seit etwa dem Ende der 60er Jahre gibt es zunehmend reichlich Literatur über die Geschichte der Rechenhilfsmittel vor der Einführung des Computers und zwar sowohl solche, in der diese Geschichte als Vorgeschichte des Computers behandelt wird (z.B. De Beauclair 1968 , Glade/Manteuffel 1973, von Mackensen 1985, Naumann 2001) als auch davon relativ unabhängige, in der Teile dieser Geschichte im Rahmen der Biographien beteiligter Personen (z.B. Taton 1964, 1974, Loeffel 1987) oder lediglich vom museologischen Standpunkt (z.B. Grötzsch/Karpinski 1978, Schillinger 2000) beschrieben werden. Alle diese Literatur, soweit mir bekannt, konzentriert sich auf die den Erfindungen zugrundeliegenden mathematischen Prinzipien (dies besonders z.B. beim logarithmischen Rechnen) oder auf die technische Seite oder auf beides, d.h. sie behandelt diesen Teil der Geschichte als Teil der Geschichte der Mathematik bzw. der Technikgeschichte. Von Mackensen beginnt seinen Aufsatz von 1990 geradezu mit den Worten: „Alles instrumentelle Rechnen besitzt eine mathematisch-logische und eine physikalisch-technische Seite, welche in der Fachsprache auch als „software“ und „hardware“ bezeichnet werden.“

Der britische Mathematikhistoriker Ivor Grattan-Guinness hat wiederholt darauf hingewiesen, dass es zwei unterschiedliche Herangehensweisen an die Geschichte von Wissenschaft und Technik gibt. Die eine untersucht, wie und aus welchen Wurzeln sich der heutige Zustand entwickelt hat. Sie stellt sozusagen den Stammbaum einer heute gültigen Theorie, Erkenntnis, eines Begriffes oder einer Erfindung auf und lässt folglich alles beiseite, was keine Spuren in der Gegenwart hat. Genau dies ist es, was die oben skizzierte Art von Literatur zur Geschichte der Rechentechnik meist leistet. Die zweite Art versucht, die viel schwerere Frage zu beant- worten, was in der Vergangenheit tatsächlich geschah. Das ist analog zum Stammbaum einer Dynastie, der bei einem Ahnherren beginnend, auch alle später abgestorbenen Zweige enthält. Wenn diese Frage „Wie war es damals?“ von unserer Literatur nicht oder nur andeutungs- weise befriedigt wird, darf man sich nicht wundern, dass die für die Menschheitsgeschichte heute doch so wichtig gewordene Frage nach den Ursprüngen der Computer Science bzw. Informatik in der allgemeinen Geschichtswissenschaft [z.B. von Ranke] ebenso wie in populär-wissenschaftlichen Werken zur Geschichte [z.B. Pleticha] oder selbst in Schul- büchern kaum eine Rolle spielt, oft nicht einmal am Rande erwähnt wird. Denn diejenigen Historiker, die solche Texte schreiben, interessieren sich nun einmal vorrangig für die zweite Frage. Eine wirkliche Einbindung in die Geschichte findet auf diese Weise kaum statt. Selbst in Büchern über allgemeine Geschichte der Technik wird die Geschichte der Rechenhilfs- mittel und –maschinen höchstens beiläufig gestreift (z.B. in der zweibändigen „Allgemeinen Geschichte der Technik“ 1985 überhaupt nicht erwähnt).

Natürlich lässt sich ein solches Defizit in einem Vortrag von 20 Minuten (und mit einer kurzen Vorbereitungszeit) nicht beheben. Ich will im Folgenden nur einige Aspekte benennen, die zu einer solchen wünschenswerten engeren Verbindung von allgemeiner Geschichte und der sehr speziellen Geschichte der Rechenhilfsmittel gehören und diese Aspekte an wenigen Beispielen etwas näher ausführen, mich dabei aus Platz- bzw. Zeitgründen auf die ältesten mechanischen Rechenmaschinen beschränken, obwohl die entsprechenden Fragen natürlich alle auch bezüglich späterer Geräte sowie der Logarithmen und anderer analoger Hilfsmittel zu stellen sind. Vielleicht kann ich dadurch den einen oder anderen Anwesenden, der sich in verdienstvoller Weise mit einem ganz speziellen historischen Gerät, einer Technik, einer Person beschäftigt, dazu anregen, die Grenzen seiner Untersuchung etwas weiter zu ziehen als bisher und damit auch einen größeren Interessentenkreis anzusprechen.

(1) Die Erfindung und der Bau von Prototypen digital arbeitender mechanischer Rechenmaschinen setzte bekanntlich ohne wirkliche Vorgeschichte massiv im 17. Jh. ein (Wilhelm Schickardt um 1623, Blaise Pascal ab 1642, Samuel Morland (1666), G. W. Leibniz (ab 1671), P. M. Hahn (um 1777), Grillet de Roven (1678),... Zugleich ist aber dieses Jahrhundert mathematikhistorisch charakterisiert durch den Übergang vom elementaren Zahlenrechnen, wie es die Rechenmeister der Renaissance gelehrt und praktiziert hatten, zu demjenigen mathematischen Stil, den man aus heutiger Sicht zusammenfassend als Formelmanipulation bezeichnen kann: algebraisches Rechnen mit allgemeinen Buchstaben, Einführung von Funktionsnamen für trigonometrische und andere irrationale Standardfunktionen und die Manipulation entsprechender Terme, analytische Geometrie, Differential- und Integralkalkül. Welches war also das Motiv von zum Teil bedeutenden Mathematikern, die zugleich an vorderster Front in den genannten neuen Gebieten tätig waren, sich ausgerechnet in einer Zeit, in der das blanke Zahlenrechnen in den Hintergrund der Mathematik tritt (wenn es auch natürlich nicht aus der Arbeit der Mathematiker verschwand), mit der Erfindung von Rechenmaschinen zu beschäftigen?

(2) Maschinelles Rechnen kann sowohl der Arbeitserleichterung, der Befreiung von stumpf- sinniger Tätigkeit und der Erhöhung der Arbeitsleistung als auch dem Schutz vor Fehlern, die sich beim Rechnen von Hand einstellen, dienen. Bekannt ist, dass Charles Babbage durch die vielen Fehler in zeitgenössischen Zahlentafeln zu seiner Arbeit angeregt wurde und mehrfach diesen Sicherheitsaspekt des maschinellen Rechnens in der Vordergrund gestellt hat. An an- derer Stelle [Schreiber 1992] habe ich ausgeführt, dass sich dies bis in die Lehrbücher der numerischen Mathematik des beginnenden 20. Jhs. fortsetzte - zum Erstaunen der Heutigen, denen umgekehrt Schnelligkeit und Effizienz so wichtig geworden sind, die aber zugleich immer skeptischer bezüglich der Zuverlässigkeit des Computers werden. Ich will diese Be- tonung des Schutzes gegen Fehler durch ein Zitat aus dem „Theatrum arithmetico-geome- tricum“ (1727) des Jacob Leupold noch etwas weiter als bis Babbage zurückverfolgen: „Und obwohlen bey der Arithmetic vielen die Rechen-Machinen vor etwas überflüssiges und nicht allzunützliches scheinen dürfften ....so mögen selbige dargegen wohl erwegen, dass solche Machinen bey der Operation in Berechnung des Exempels niemahlen fehlen und folg- lich man wegen der gesuchten Zahl gewiss seyn kann, da man sonst immer, bis das Exempel probiret, in Zweiffel stehen muss, ob auch recht gerechnet.“ (Zitiert nach [Naumann], S. 54) Es bleibt also die Frage: Wie steht es mit den Gewichten der Argumente Sicherheit gegen Befreiung von eintöniger Arbeit in statu nascendi der Maschinenidee im 17. Jh.?

(3) Maschinelles Rechnen lohnt sich vor allem beim Rechnen mit vielstelligen Zahlen. Das können große Zahlen oder Zahlen mit vielen Dezimalstellen sein. Man soll also fragen, in welchen Zusammenhängen derartige Rechnungen im 17. Jh. auftreten. Welche zu dieser Zeit dringlichen Praxisaufgaben hätten tatsächlich durch die Maschinen gefördert werden können?

  
(4) In welchem Verhältnis stehen die geschaffenen Maschinen zu den zur selben Zeit entstehenden mechanischen Kunstwerken, die bloßer Unterhaltung und fürstlicher Repräsentation dienten? Ist das „Rechnenkönnen“ dieser Maschinen neben oder über dem anfangs oft geringen praktischen Nutzen ebenso als Bekräftigung des mechanistischen Weltbildes zu verstehen wie die Fähigkeit kunstreicher Automaten, zu musizieren, zu tanzen oder zu schreiben?

(5) Welche Rolle spielen diese Erfindungen bei dem Bestreben von Gelehrten wie Pascal, Huygens oder Leibniz, aber auch bei Uhrmachern und Mechanikern, sich Respekt, Aner- kennung, Ruhm und womöglich eine sichere Lebensstellung zu verschaffen?

(6) Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen den Gelehrten, die in den meisten Fällen die Projekte lieferten, und den ausführenden Handwerkern?

(7) Wie wurden die Maschinen verbreitet, verkauft, genutzt. In welchem Verhältnis standen die Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten zu diesem Nutzen?

Last but not least: Unter welchen politischen bzw. wirtschaftlichen Bedingungen arbeiteten die Erfinder und Produzenten? Wie wirkten sich diese Bedingungen auf die öffentliche Anteilnahme an ihren Arbeiten aus?

Auf einige der genannten Fragen, die zugegebenermaßen viel schwerer zu beantworten sind als das schlichte: Wie sahen die Maschinen aus, wie funktionierten sie, wer baute sie? will ich hier exemplarisch Fragmente von Antworten zu geben versuchen, indem ich zunächst die an sich wohlbekannte und vielfach beschriebene Geschichte der von Blaise Pascal [Abb. 1] erfundenen und realisierten Maschine neu erzähle: Pascal begann die Arbeit an seinen Maschinen im Alter von 19 Jahren, um seinem Vater Etienne, der zu dieser Zeit mit umfangreichen Steuerberechnungen beschäftigt war, die Arbeit zu erleichtern. Es ging also um große ganze Zahlen, die obendrein, der damaligen französischen Währung entsprechend, nicht streng dezimal aufgebaut waren. Das kann man noch jetzt an den ältesten der erhaltenen Pascalinen sehen [Abb.2]: Nombres sind „Einer“ nämlich Livres, die dann fortlaufend dezimal bis 10 Millionen gezählt werden, aber links von den Nombres findet man „Solz“ und ganz links „Deniers“. 12 Deniers = 1 Sol, 20 Sol. = 1 Livre. Dementsprechend ist die Anzahl der Zähne. (Die Abkürzung Solz, in manchen Büchern als Sots gelesen, ließ mir keine Ruhe, bis ich mit Hilfe eines ganz alten französischen Lexikons herausfand, dass Sol eine französische Kurzform für den aus dem Lateinischen stammenden Solidor war. Erst gegen Ende des 18. Jh wurde daraus der Sou.) Nebenbei lehrt uns die Pascaline, dass das stellenweise Addieren und Subtrahieren nicht eines Positionssystems mit einheitlicher Basis bedarf, sondern genauso gut (und maschinell wegen der Ausschließung von Fehlern sogar sicherer als schriftliches Rechnen) mit einem System unterschiedlicher Staffelung funktioniert, wie es Währungen, Maßen und Gewichten jahrtausendelang zugrundelag, zum Teil z.B. bei der Zeit heute noch praktiziert wird. Auch die von Jacob Auch aus Vaihingen 1790 gebaute Maschine ist für Geldrechnungen bestimmt und daher nicht streng dezimal aufgebaut [Abb. 3]. Durch die „Dix de Millions“ der Pascaline gewinnen wir eine Vorstellung von der Größenordnung der Summen, mit denen Etienne Pascal zu tun hatte. Unklar bleibt seine genaue Tätigkeit. Schillinger [2000, S. 10] schreibt diplomatisch „Finanzbeamter“. Naumann schreibt vom „ererbten Amt eines Königlichen Rates, Schatzmeisters und Finanzdirektors in Clermont-Ferrand“, der jedoch „später nach Paris zog“. Dass er aber zu der Zeit, als Blaise die erste Pascaline konstruierte, bereits königlicher Steuerkommissar für die Normandie in Rouen war (1639-48 laut R. Taton [1974]) und ausdrücklich mit der völligen Neuordnung der Steuererhebung und -eintreibung beauftragt, bleibt unerwähnt. Auch von Taton, dem unbestrittenen Spezialisten für die Familie Pascal, kann man nicht lernen (obwohl er es sicher gewusst hat, aber nicht passend fand, in einer rein wissenschaftlichen Biographie darzustellen), in welch maßlos zerrüttetem Zustand sich zu dieser Zeit sowohl das ganze Land Frankreich als auch seine Finanzen befanden. Der ernsthafte Wissenschaftshistoriker, der wirklich wissen will, unter welchen Umständen und zu welchem Zweck Etienne Pascal seine Berechnungen durchführte, ist gut beraten, dies bei Leopold von Ranke nachzulesen, auch wenn dort leider der Name Pascal überhaupt nicht erwähnt wird. Es kommt aber noch etwas hinzu: Etiennes Amt mag den Anstoß für die Erfindung seines Sohnes gegeben haben. Dieser hatte jedoch schon fast vor den technischen Problemen der Realisierung kapituliert, als er in dem Vorgesetzten seines Vaters, dem Statthalter der Normandie, Pierre de Séguier [Abb. 4], später einem der Gründer der Pariser Akademie, einen interessierten Förderer seiner Idee fand, der ihn drängte, die Versuche (Pascal schreibt später von etwa 50 misslungenen Prototypen) wieder aufzunehmen und mit einem größeren Stab von Handwerkern zu realisieren als ursprünglich. Diesem Séguier (der bei aller Gelehrsamkeit ein brutaler Unterdrücker von lokalen Unruhen war), wurde dann 1645 ein Exemplar der inzwischen bei vorsichtiger Bedienung funktionierenden Maschine mit einem Widmungsschreiben überreicht, welches zu den wenigen erhaltenen Dokumenten gehört, die nähere Auskunft über die Entstehungsgeschichte der Pascaline geben. Ich zitiere: „Die Erleuchtungen der Geometrie, Physik und Mechanik versetzten mich in die Lage, diesen Entwurf auszuführen und mich zu versichern, dass der Gebrauch fehlerfrei sein würde, sobald jemand das Instrument so herstellen kann, wie es meiner Vorstellung entspricht.“ (Übersetzt aus dem bei [Loeffel 1987, S. 50] abgedruckten französischen Original.) Bezüglich der von Pascal beschriebenen Schwierigkeiten mit den Handwerkern sollte man zweierlei bedenken: Das grundsätzliche und in definierbaren Grenzen eindeutige Verständigungsmittel zwischen dem Konstrukteur eines Gerätes oder sonstigen Artefaktes und den Ausführenden (Es handel- te sich auch bei der Pascaline um eine Gruppe von Handwerkern unterschiedlicher Gewerbe, deren Teilprodukte am Ende zusammen passen sollten.) sind die Verfahren der darstellenden Geometrie. Diese standen im 17. Jh. noch nicht zur Verfügung. Zwar hatte Albrecht Dürer diese Methoden in seinen Büchern 1525 bzw. 1528 bereits zu großer Perfektion entwickelt, und diese waren auch bereits einigen französischen Geometern bekannt, aber noch nicht in die Praxis gedrungen. Den Qualitätsunterschied der technischen Bildsprachen illustrieren hier Skizzen von Schickardt und Leibniz im Gegensatz zu den Zeichnungen von Babbage [Abb. 5]. Hinzu kommt: Was in einem so diffizilen Mechanismus tatsächlich passiert, wenn man ver-sucht, ihn in Bewegung zu setzen, konnten weder Pascal noch die Handwerker vorhersehen. Es bedurfte auch späterhin immer vieler Versuche, ehe derartige Technik funktionstüchtig wurde.

Séguier war es auch, der Pascal 1649 das vielzitierte königliche Privileg verschaffte, welches sich, man höre und staune, auch auf alle Maschinen erstreckte, die einem gleichen oder ähnlichen Zweck dienen. Hier entsteht natürlich die Frage, wie sich dieses Privileg mit der Vorführung der Leibniz’schen Maschine in Paris im Jahre 1674 oder der Maschine von Grillet de Roven 1678 verträgt. Galt das Privileg dann schon nicht mehr? Blaise Pascal scheint zumindest in jungen Jahren ganz und gar nicht der rein idealistische und durch seine Familienzugehörigkeit auch finanziell unabhängige und uninteressierte Gelehrte gewesen zu sein, als der er gern dargestellt wird. Dem in dürftigen Verhältnissen lebenden, heute berühmten Pariser Mathematikprofessor Roberval (1602 bis 1675), einem Freund seines Vaters, übertrug er das Recht, die Pascaline in Paris vorzuführen (täglich morgens bis 8 Uhr vor den Lektionen und Sonnabend nachmittags) und gegen Provision zu verkaufen. 1652 sandte er ein Exemplar an Königin Christine von Schweden. Es scheint, dass er sich damit auf den Spuren von Descartes eine Einladung an den schwedischen Hof erkaufen wollte, und in der Tat war es für den Jansenisten Pascal in Frankreich zu dieser Zeit recht ungemütlich. Zum Umfeld ist noch zu bemerken, dass unsere Geschichte während der Regierung des Kar- dinals Richelieu (gest. 1642) beginnt. Ein Jahr später starb Ludwig XIII., und seine Witwe Anna von Habsburg regierte mit ihrem Günstling Mazarin im Namen des minderjährigen Ludwig XIV bis zu dessen Thronbesteigung 1661. Die Pascals waren Jansenisten, diese wur- den von Richelieu und Mazarin wütend verfolgt. Auch Vater Pascal fiel in Ungnade, konnte sich aber wieder in Gunst setzen, indem er seine Tochter Gilberte, dieselbe, die später einen so verklärten Bericht über ihren geliebten Bruder Blaise verfasst hat, vor Richelieu tanzen ließ.

1659 lieh sich Christiaan Huygens, der zu dieser Zeit als Privatgelehrter bei seiner Familie in Den Haag lebte und noch nicht in Frankreich gewesen war, eine Pascaline. Dies weckt die Neugier, zu welchem Zweck er sie benutzen wollte. Der Blick auf sein Werk zeigt, dass er sich in dieser Zeit mit der (damals noch rein kombinatorisch orientierten) Wahrschein- lichkeitsrechnung beschäftigte. Bei der Berechnung der Anzahlen von möglichen und günstigen Fällen geht es in der Tat manchmal um sehr große ganze Zahlen. So findet Huygens zum Beispiel als Antwort auf ein solches Problem, dass sich die Gewinnchancen zweier Spieler wie 244 140 625 zu 282 429 536 481 verhalten [Schneider, S. 43]. Aus der Tatsache, dass der sehr begüterte Huygens die Maschine, welche damals 100 Livres kostete, nur gelie- hen, aber nicht gekauft hat, kann man wohl schließen, dass er von ihrer Funktionstüchtigkeit, nachdem er sie getestet hatte, doch nicht so begeistert war, dass sie ihm den hohen Preis wert schien. Die erste persönliche Begegnung zwischen Huygens und Pascal fand übrigens erst Ende 1660 in Paris statt. (Ich wüsste gern, was dort über die Pascaline gesagt wurde.)

Zur Frage (4), das Verhältnis zu anderen mechanischen Kunstwerken und das mechanistische Weltbild betreffend, zitieren wir Pascal aus seinen „Pensées“: „Die Rechenmaschine zeigt Wirkungen, die dem Denken näher kommen als alles, was Tiere vollbringen; aber keine, von denen man sagen muss, daß sie Willen habe wie Tiere.“ (Zitiert nach [Loeffel], S. 47. In meiner Ausgabe der „Pensées“ habe ich die Stelle noch nicht finden können.) Leibniz schreibt 1671, also ganz am Beginn seiner Arbeit an den Rechenmaschinen, an den Herzog von Hannover, zitiert nach [von Mackensen 1990, S. 57]): „In Mathematicis und Mechanicis habe ich vermittels artis combinatoriae einige Dinge gefun- den...und erstlich in Arithmeticis eine Machine, so ich eine L e b e n d i g e R e c h e n b a n k nenne, dieweil dadurch zuwege gebracht wird, daß alle Zahlen sich selbst rechnen, addiren subtrahiren multipliciren dividiren.“ Und auch die schon vielfach zitierte Stelle im Brief Schickardts an Kepler „Du würdest hell auflachen, wenn du da wärest und miterlebtest, wie sie, so oft es über einen Zehner oder Hunderter hinweggeht, die Stellen zur Linken ganz von selbst erhöht oder ihnen beim Sub- trahieren etwas wegnimmt,“ deutet darauf hin, dass neben dem erwarteten praktischen Nutzen stets auch die an Wunder grenzende Kuriosität der Maschinen, ihr Unterhaltungswert, eine Rolle spielte - womöglich sogar die wesentlichste. Wir wollen nicht vergessen, dass auch die vielen Uhren, Zeichen- und Messinstrumente dieser Zeit, die bis heute in den Nachfolgeein- richtungen der fürstlichen Kunstkammern gehütet werden, schon durch das Übermaß an Zierat kaum zum Gebrauch geeignet und meist auch nicht dafür bestimmt waren.

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Abb. 1: Blaise Pascal Abb. 2: Pascaline

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Abb. 3: Detailaufnahme der Maschine von J. Auch, 1790

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Abb. 4: Pierre Sequier Abb. 5a: Handzeichnung von Schickard
 

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Abb. 5b: Zeichnung von Leibniz
 

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Abb. 5c: Zeichnung des Sprossenrades von Leibniz

 

1 Literatur:

Autorenteam (1985): Allgemeine Geschichte der Technik, 2 Bände, Leipzig. W. de Beauclair (1968): Rechnen mit Maschinen. Eine Bildgeschichte der Rechentechnik. Braunschweig. H. Glade, W. Manteuffel (1973): Am Anfang stand der Abacus. Leipzig-Jena-Berlin. H. Grötzsch, J. Karpinski (1978): Mathematisch-Physikalischer Salon Dresden. Leipzig. H. Loeffel (1987): Plaise Pascal. (Reihe Vita Mathematica). Basel-Boston. L. v. Mackensen (1985): Kunst und Technik – 2000 Jahre Vorfahren der Computer. In: Herrenhausen ’85. München. Überarbeitet als: Die ersten dekadischen und dualen Rechenmaschinen in: G. W. Leibniz – Mathematiker, Physiker, Techniker, Katalog der Leibniz-Ausstellung Hannover 1990.

F. Naumann (2001): Vom Abakus zum Internet. Die Geschichte der Informatik. Darmstadt. H. Pleticha (Hrsg. 1996): Weltgeschichte in 12 Bänden, Bertelsmann Lexikon-Verlag. L v. Ranke Französische Geschichte(1852 - 61): Reprint o.J., Vollmer(Phaidon) Essen. K. Schillinger (2000): Rechengeräte aus der Sammlung des Mathematisch-Physikalischen Salons. Katalog, Staatliche Kunstsammlungen Dresden. I. Schneider (1989): Die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitstheorie von den Anfängen bis 1933. Berlin, Akademie-Verlag. P. Schreiber (1992): Algorithms and Algorithmic Thinking through the Ages und General Numerical Mathematics. In: Companion Encyclopedia of the History and Philosophy of the Mathematical Sciences, ed. Grattan-Guinness, London-New York. R. Taton (1964): L’oeuvre scientifique de Pascal. Paris, Presses Universitaires. R. Taton (1974): Blaise Pascal und Etienne Pascal. In: Dictionary of Scientific Biography. Ed. Ch. Gillispie, vol. 10, New York.

Schreiber-05-babbage.jpg
Abb 5d: Originalzeichnung eines Details der „Analytic Engine“ von Babbage
 

Anschrift des Autors: Prof. Dr. Peter Schreiber D – 18437 Stralsund, Grünthaler Hof 18

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